Ukraine: Niederlage nach Punkten

Ausgegrenzt: Präsident der Ukraine Petro Poroschenko muss eine herbe politische Niederlage hinnehmen

Ausgegrenzt: Präsident der Ukraine Petro Poroschenko muss eine herbe politische Niederlage hinnehmen

Während die Ukraine einen erzwungenen Waffenstillstand mit den Separatisten besiegelt, zögert der Westen mit wirkungsvollen Entscheidungen

Vor 75 Jahren hat das Zögern der westlichen Demokratien die größte militärische Auseinandersetzung aller Zeiten begünstigt. Heute lernt man immer noch nicht aus den Fehlern – man zögert weiter. Der NATO-Gipfel in Wales bringt keinen Befreiungsschlag: Keine Perspektive für einen NATO-Beitritt der Ukraine, keine dauerhafte Truppenstationierung in neuen NATO-Mitgliedstaaten, geschweige denn eine Intervention der NATO-Truppen in die Ostukraine. Vor allem die Bundesregierung hat die Eindämmung der russischen Aggression verhindert – der demonstrative Pazifismus ist hier aber fehl am Platz.

Noch kann man nichts Eindeutiges über die Lösung des ukrainisch-russischen Konfliktes (ja, der Konflikt ist russisch-ukrainisch, die Separatisten spielen hier eine Marionetten-Rolle) sagen, aber alles deutet darauf hin, dass die erschöpfte Ukraine einlenken und dem unbequemen Waffenstillstand zustimmen will. Dieser Verlust ist keine bedingungslose Kapitulation, er erfolgte eher knapp: Vor einigen Wochen war es noch undenkbar, dass die Kämpfer der „Volksrepublik Donezk“ durchhalten. Aber dann kamen den Separatisten russische Hilfskonvois und Militärtruppen zu Hilfe, und die ukrainische Armee erlitt in den Ostgebieten schwere Rückschläge. Das sollte keinen wundern: Einen langwierigen Abnutzungskrieg gegen Russland kann sich dieser arme Osteuropastaat kaum leisten.

Der Westen hat diese Niederlage mit zu verantworten. Und solange die Ukraine noch nicht komplett ruiniert ist, sollten die EU-Demokratien entschlossen eingreifen. Dazu sind sie verpflichtet, auch wenn die Ukraine kein EU- oder NATO-Mitglied ist. Noch vor dem Euromaidan hat die EU die Östliche Partnerschaft intensiv gefördert. Der Westen hat viel Geld und Aufmerksamkeit in die Europäisierung der Ukraine investiert, teilweise auch den Euromaidan erleichtert, was später den Konflikt mit Russland auslöste. Jetzt darf die EU nicht aufhören: Der Staatenbund ist jetzt verpflichtet, das Machtspiel bis zum Ende zu führen und die Ukraine von der Einflusssphäre des Kremls zu verschonen, sonst verspielt sie die Glaubwürdigkeit, und Moskau kann so ermutigt werden, später auch die verletzlicheren EU- und NATO-Mitgliedsländer (vor allem Polen und die baltischen Staaten) zu bedrohen.

Selbst wenn Russland höchstwahrscheinlich nicht daran interessiert ist, in der Ukraine jetzt direkt zu intervenieren, bedeutet das nicht, dass diese Gefahr durch den Waffenstillstand für ewig ausgeräumt wird. Moskau will vielmehr eine starke Autonomie der Ostukraine erzwingen und so ein Hintertürchen für spätere Eingriffe offen lassen. Auf diese Weise kann man dem ukrainischen Gesamtstaat die fehlende Integrität vorwerfen und geschickt den Weg zur EU-Mitgliedschaft blockieren. Irgendwann ist die EU über mangelnde Fortschritte der Ukraine enttäuscht und vernachlässigt die Idee der Beitrittsverhandlungen wie einst bei der Türkei. So geht Russlands Plan auf, prowestliche Ambitionen im Keim zu ersticken. Und dann bleibt der Ukraine kein weiterer Weg, als demütig der Eurasischen Wirtschaftsunion beizutreten.

Außerdem weiß niemand, ob der Waffenstillstand beiderseitig eingehalten wird. Die Separatisten können künftig einen schleichenden Guerillakrieg gegen die zentrale Regierung in Kiew führen, ohne einen konventionellen Krieg erklären zu müssen. Die jetzige Situation nach dem Waffenstillstand ist für die Ukraine äußerst ungünstig: Die Separatisten haben eine zweite Kampflinie um die strategisch wichtige Stadt Mariupol aufgebaut. Wenn diese Stadt nach den erneuten Kämpfen in die Hände der Separatisten fallen würde, könnte die „Volksrepublik Donezk“ das ganze ukrainische Ufer des Asowschen Meeres erobern und Kiew entscheidend schwächen. Deswegen taugt der ausgerufene Waffenstillstand vor allem den Separatisten, ihre Truppen umzustrukturieren und auf weitere Kämpfe vorzubereiten.

Eine nachträgliche politische Konfliktlösung ist schon allein darum unmöglich, weil Russland seine Rolle als Konfliktpartei weiter strikt dementiert. Auf diese Weise tarnt sich Moskau als ein neutraler Akteur und übernimmt keine Verantwortung für den unkontrollierbaren Waffentransport an der russisch-ukrainischen Grenze.

Dagegen hilft nur eine Abschreckungsstrategie: Russland muss erfahren, dass seine expansive Politik gegenüber der Ukraine ausgerechnet der russischen Wirtschaft schaden wird. Im Bereich der Sanktionen sollte die EU härtere Maßnahmen ausprobieren, vor allem Russlands Ausschluss aus dem Swift-Netz, was russische Banken und gleichzeitig die Eliten des Kremls von globalen Finanzsystemen isolieren würde. Auch besondere militärische Maßnahmen könnten ins Gespräch gebracht werden: Falls Russland die Lage in der Ostukraine weiter destabilisiert und die Separatisten weiterhin bewaffnet, sollte die NATO sogar die NATO-Russland-Grundakte kündigen, die der Nordatlantik-Allianz verbietet,  ihre Truppen in neuen Mitgliedstaaten dauerhaft zu stationieren. Das Dokument galt als ein Versprechen des Westens, die militärische Situation an der östlichen NATO-Grenze nicht zu verschärfen und so Russland nicht zu provozieren. Momentan verhält sich aber vielmehr Russland als der Provokateur. Beim NATO-Gipfel in Wales hat Bundeskanzlerin Merkel die Suspendierung dieser Akte verhindert – und noch einmal bewiesen, dass die jetzige Bundesregierung (bis auf einige Minister) die Bedrohung Europas durch Russland nur ungenügend wahrnimmt.

Während der Kreml die Zermürbung der Ukraine mit militärischen Maßnahmen fortsetzt, bestehen viele Experten weiterhin auf die militärische Zurückhaltung des Westens. Im schlimmsten Fall muss die Wehrhaftigkeit der Demokratie auch mit militärischen Mitteln nachgewiesen werden. Zur Zeit zeigen die NATO und die EU der Irak-Krise vielmehr Aufmerksamkeit als der an der russisch-ukrainischen Grenze. Wenn die Situation in der Ukraine aber wieder eskaliert, dann wird der Westen verstehen, einen Fehler bei der Wahl der Prioritäten gemacht zu haben. Nur kann es dann schon zu spät sein, die Katastrophe am Rande Europas abzuwenden.